Michels Moderation beim Jahreskonzert 2023

Ansage 1 [3:00] (zwischen Grand March und Song without words)

Guten Abend meine Damen und Herren. Schön dass Sie hier sind und nicht zuhause auf dem Sofa, auf einer Whiskeyprobe oder mit Verspätung in der Bahn. Sie werden Ihre Wahl nicht bereuen, nimmt Sie der Musikverein Holzgerlingen unter Dominik Wagner doch heute mit auf eine musikalische Reise an diese und weitere Sehnsuchtssorte. Mein Name ist Michael Lehmann; ich habe das Vergnügen, Sie heute durch das Programm des Großen Orchesters führen zu dürfen.

Mal schauen, wie lange dieses Vergnügen noch währt oder ob in Zukunft ein humanoider Roboter hier vorne steht und mit einem durch künstliche Intelligenz generierten Ansagetext das Programm präsentiert. Noch aber ist’s nicht soweit gekommen und ich versuche mich auch dieses Jahr wieder an Werkeinführungen der etwas anderen Art. Zahlen, Daten, Fakten sind nur wenige Klicks entfernt und selbst eine fertig ausformulierte Rezension können Sie in 1,6 Sekunden über Chat GPT bekommen. Aber ich bezweifle, dass jemand vom Musikverein erwartet, einen Bildungsauftrag zu erfüllen. Verblöden soll heute Abend keiner, aber zuallererst möchten wir Sie unterhalten, Ihnen Vergnügen bereiten und dass Sie nach dem Konzert mit einem Ohrwurm im Hirn und einem etwas leichteren Geldbeutel in der Tasche zufrieden summend nach Hause schweben.

Dazu war der Konzertmarsch Grand March von Soichi Konagaya als Eröffnung sicherlich gut gewählt. Das richtige für alle Instrumentengruppen zum Wachwerden und das Richtige für ein erlesenes Publikum wie beim Heimspiel in Holzgerlingen, das sich über einen solchen Soundcheck freut und bei Fanfare und Paukenwirbeln das Gehör kalibriert. Feiner wird es noch.

Nämlich genau hier und jetzt im nächsten Weizen-Stück, das Dominik Wagner für den Musikverein und für Sie aus der Spreu geklaubt hat. Das Lied ohne Worte. Oder, wie es nach dem Intervenieren der Marketingabteilung des schweizerischen Verlags jetzt heißt Song without words. „Etwas internationaler sollte der Titel schon klingen“, so das Management, „dann lässt er sich besser verkaufen. Das isch nicht zuletzt in Ihrem Interesse, Herr Wagner“. Wer kann dazu schon nein sagen? In Finanzdingen kennen sie sich halt aus, die Schweizer. Umstimmen ließ sich der geistige Vater schon einmal bei diesem Stück. Damals von seinem Professor an der Musikhochschule Stuttgart. Der meinte „widme nie ein Musikstück einer Frau. Das bringt Unglück“. Tja, auch das will niemand wagen. So kam es zum Song without words auf Englisch und ohne Widmung. Dass dies dem Stück keineswegs geschadet hat, das stellt der Komponist zusammen mit dem MV Holzgerlingen in wenigen Sekunden persönlich unter Beweis. Meine Damen und Herren, genießen Sie die Getragenheit, die Ruhe und Romantik, lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich entschleunigen vom Song without words unter der Leitung des Komponisten höchstselbst: am Pult Dominik Wagner.

Ansage 2 [1:35] (zw. Song without words und Rhapsody from Scotland)

Sehnsuchtsziele hatte ich Ihnen versprochen. Das nächste liegt zum Hören nah. Jetzt ist’s soweit, dass wir Sie nach dem entspannten „Song without words“ vom Sofa runterlocken, Sie nicht weiter einlullen in Träume, sondern Sie aufrütteln aufzuspringen, die Plüschhausschuhe hinter sich zu werfen und in die untergehende Sonne zu reiten. Auf einem Hochlandrind. Gen Westen. In ein Land, in dem Mann nicht mal Feinripp unter den Karos trägt, in dem man sein Erspartes mit sicheren 42 % im Keller anlegt, in ein altes Land am Puls der Zeit: dort haben die Männer schon Röcke getragen, als es Gender Studies noch gar nicht gab.

Der Musikverein hat sich ein Rädchen abgeschnitten von der schottischen Schafskuttelwurst. Meine Damen und Herren und alle dazwischen: jetzt wird gehornt und gepfiffen, volksgetanzt und in den Sack gedudelt.

Nach diesem Stück werden auf der Bühne Unruhen ausbrechen. Es handelt sich um einen Generationenkonflikt, bei dem die aufstrebende Jugend die Oberhand gewinnen wird. Das Große Orchester macht Platz für die Jugendkapelle des Musikvereins, die Fetzigen Noten. Doch jetzt erst mal ins Higland-Idyll. Viel Spaß bei der Rhapsody from Scotland mit dem Musikverein Holzgerlingen unter der Leitung von Dominik McWagner.

Ansage 3 [2:30] (zwischen Arsenal und Como la Flor)

Schön dass sie wieder da sind, meine Damen und Herren. Was können sich Künstler mehr wünschen als ein treues Publikum. Nach den Darbietungen der Fetzigen Noten und der Realschul-Big Band hätten Sie ja auch zu dem Schluss kommen können, da kommt nichts besseres mehr nach, ich packe meine Siebensachen und reite auf der neuen elektrischen Zahnbürste nach hause, schenke mir einen Single Malt ein, bitte meine Bessere Hälfte um ein mindestens halbstündiges Lied ohne Wort und genieße die Ruhe eines Sonntagabends. Aber nein, Sie halten den Musikern die Stange – und den Musikerinnen – und wir bestätigen gern, das das wieder die richtige Entscheidung war. Also weiter im Text:

Die Älteren im Saal kennen das noch. Es gab Eisenbahnen, die zuverlässig und pünktlich fuhren. Und die gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch in Belgien. Und die Menschen dort, in Mechelen, in Belgien, die waren stolz darauf. So stolz, dass sie zum 50. Jubiläum ihres Bahnbetriebshofs, dem Arsenal, eigens eine Hymne komponieren ließen. Mit dieser Huldigung, dem Konzertmarsch Arsenal von Jan Van der Roost haben wir Sie – im wahrsten Sinne des Wortes – aus der Pause ge-lockt. „Sänk you for trüffeling wis MVH.“

Auf Gleis zwei geht es hier weiter auf einer Panoramastrecke, mal gemächlich, mal etwas lebhafter, aber stets im Fließen und reich an musikalischen Bildern. Kein Feuriger Elias sprüht hier Funken, aber eine feurige Tänzerin wird Sie in ihren Bann ziehen. „So elegant wie eine Blume im Wind bewegt sie sich zu den Rhythmen der Musik“, so der hoch dekorierte Komponist Mathias Wehr über diese Tänzerin in seinem Stück Como la Flor. Voller spontaner Lebensfreude sei ihre Musik, aber auch oft ernst, verzweifelt, dramatisch und voller Schmerz. Dass Schmerz und Wonneschauer nah beieinander liegen können, das weiß die Menschheit spätestens seit Shades of Grey, und gibt sich gerne diesem Wechselbad der Gefühle hin. Lassen Sie sich für die nächsten neuneinhalb Wochen für die nächsten sieben Minuten fesseln von der Tänzerin und genießen Sie, wie Domin ique Wagner den Takt stock führt.

Ansage 4 [2:00] (zwischen Como la Flor und Roger Cicero)

Nur ungern reiße ich Sie aus Ihren Träumen, es widerstrebt mir, die Bilder in Ihren Köpfen zu zerstören. Schon gar nicht mit dem, was jetzt kommt. Ein Medley mit Liedern von Roger Cicero, dem viel zu früh gestorbenen Jazz-Sänger mit Liedtexten voller theatralischer Anklage und bissiger Selbstironie: „Bin ein Schöpfer, ein Macher, Beschützer, Bewacher, Ein Forscher, ein Retter, adretter Jetsetter, Gestählter Don Juan, ein Bild von einem Mann”, so beschreibt er sich seiner Frau. Die ihm entgegnet: ” Bring den Müll raus, zieh die Schuh aus”. Doch ist die Blasmusik-Instrumentalversion gnädiger, auch wenn Ihnen so witzige Passagen entgehen wie die, in der Cicero beschreibt, wie sich Greenpeace-Aktivisten an einen Mann ketten, weil der nicht mehr Motorrad fahren darf und neben seinem Sofa weder Chips noch Cola stehen dürfen, für ihn die Sportschau passé und der Kombi zu spießig ist. Für einen Mann sei dies „nicht artgerecht“, so der Titel. Durchaus artgerecht für Blasmusikerinnen ist aber das Arrangement von Peter Schüller zu diesen Cicero-Liedern. Hier darf jeder volle Leistung bringen und kann sich austoben. Zumindest in den Grenzen, die die musikalisch Leitung setzt. Die haben wir nämlich im Gegensatz zu dem Bläsersatz, den Cicero bei seinen Live-Konzerten dabei hatte und von dem er behauptete “wenn man so eine fantastische Band hat, dann braucht man einen besonders strengen Bandleader, der hart durchgreift – so einen haben wir leider nicht gefunden”. Wir schon! Und das harte Durchgreifen unseres besonders strengen Dominik Wagner lohnt sich, die über 30 Musikerinnen des MV Holzgerlingen geben alles, aber geraten nicht außer Rand und Band. Der Musikverein Holzgerlingen live on stage for you mit Roger Cicero und dem Bild von einem Mann: Dominik Wagner.

Ansage 5 [2:20] (zwischen Roger Cicero und The Crazy Charleston Era)

Auf Roger Cicero komme ich gleich nochmal zu sprechen. Zunächst aber zum letzten Stück des regulären Programms, in dem sich weitere Ohrwürmer tummeln:

Die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind en vogue. Serien wie Babylon Berlin lassen diese Ära in unseren Wohnzimmern lebendig werden. Und wenn nur die Hälfte der heutigen Bilder dieser verruchten, verderbten, wilden 20er Jahre stimmt, dann muss es immer noch ziemlich verrückt zugegangen sein. Arrangeur Stefan Schwalgin hat drei Gassenhauer von vor hundert Jahren zusammengestellt und sicherlich so manches mal zufrieden über seine Ideen gelacht. Gönnt er den Bläsern doch allerlei Kapriolen und hat er doch manch ungewöhnliche Gerätschaft in dieses Stück eingebaut, mit denen sich die Schlagwerker des Musikvereins Holzgerlingen amüsieren dürfen: Hupen, Rasseln und Pfeifen kommen zum Einsatz. Heißa, was ein Spaß. Und so war einer der Rhythmus-Kollegen in der Probe am Freitag vor drei Wochen derart begeistert nach diesem Stück, dass er die Charleston-Hupe (Armin, gib mir mal bitte ein h) ja, dass er mit genau dieser Hupe in den hauchzahrten Schlussakkord von Song without words reingehupt hat. Artgerechtes Verhalten – Roger Cicero wäre begeistert gewesen.

Warum nur sehnsüchtig zurückblicken? Die 20er Jahre haben gerade wieder begonnen. Lassen Sie sich anstecken meine Damen und Herren von dieser vergnügten Leichtigkeit in Ain’t She Sweet, Sweet Georgia Brown und schließlich The Charleston in The Crazy Charleston Era, mit dem sich der Musikverein Holzgerlingen unter der Leitung von Josephine Baker… Dominik Wagner von Ihnen verabschiedet. Nehmen Sie einige Takte mit nach Hause, vielleicht reicht’s ja noch für ein Tänzchen – oder zumindest zum Hupen. Es verabschiedet sich Michael Lehmann. Bleiben Sie dem Musikverein gewogen.